Ein junger Mann, nennen wir ihn Herrn B., kam wegen undeutlichen Sprechens in meine Praxis. Er berichtete, seine Frau habe ihn darauf aufmerksam gemacht und auch er selbst bemerke, dass er in bestimmten Situationen oftmals undeutlich spreche, vor allem wenn er müde sei.


Im Gespräch fiel mir an seinem Sprechen zunächst wenig auf, außer einem gewissen nasalen Beiklang. Herr B. merkte dazu an, dass er gerade etwas erkältet sei.


In der anschließenden Untersuchung zeigte sich beim spontanen Tönen von Vokalen jedoch eindeutig ein starker nasaler Beiklang

(= offenes Näseln oder auch "Rhinophonia aperta", übrigens eine eher selten vorkommende logopädische Diagnose): Der Ton kam bei Herrn B. also zu einem großen Teil aus der Nase - deswegen auch die gewisse Undeutlichkeit beim Sprechen. Darauf aufmerksam gemacht und durch eine entsprechende Übung unterstützt, konnte Herr B. jedoch den Klang seiner Stimme spontan bewusst in Richtung normaler oraler Luftstrom- und Klangführung verändern. Der von ihm produzierte Vokalton war nun klar und kraftvoll. Dies schloss eine organische Ursache (z.B. eine Gaumensegellähmung, submuköse Gaumenspalte) aus. Das Näseln musste demnach rein funktionell bedingt sein. Ich empfahl Herrn B., dies auf jeden Fall vom HNO-Arzt abklären zu lassen.

 

Im weiteren Gespräch stellte sich interessanterweise heraus, dass Herr B. eine Frühgeburt gewesen war, die ersten Lebenswochen im Brutkasten verbracht hatte und über eine Nasensonde ernährt worden war.

 

Empathisch erfasste ich im Sinne von In-kontakter Kommunikation die Gesamtsituation. Im Einvernehmen mit Herrn B. formulierte ich ihm gegenüber folgende Loslasssätze:

 

Ich lasse los  ... die schmerzhafte und verwirrende Erfahrung aus den ersten Wochen meines Lebens, als ich den vertrauten Mutterleib viel zu früh verlassen und im Brutkasten versorgt werden musste. Ich lasse los, dass ich zunächst auf unnatürliche Weise, über Schläuche, die durch meine Nase führten und drückten und schmerzten, ernährt werden musste. In diesem Zusammenhang lasse ich die ganze Verwirrung als Säugling, der ich den Druck und Schmerz in meiner Nase und im Rachen nicht einordnen und mich auch nicht dagegen wehren konnte, los. Ich lasse außerdem die frühe Prägung und Irritation los, meine Nase als Nahrungsweg erfahren zu haben, statt das in mir angelegte orale Saugmuster ausbilden zu können. Im gleichen Sinne lasse ich los, dass meine Nase für mich ebenso vermehrt der "Klangweg" für meine Stimme war, welcher durch die Schläuche "offener" war und durch die ich die Vibration meiner Stimme beim Schreien an dieser empfindsamen Stelle unbewusst viel stärker wahrgenommen habe als andere Babys.

Ich mache mir jedoch jetzt, als Erwachsener, bewusst, dass der hauptsächliche Klang meiner Sprache und Stimme über den Mund geht und nicht mehr, wie damals, durch die Nase. In diesem Zusammenhang lasse ich insbesondere auch noch die unbewusste Koppelung von Müdigkeit (als Baby) und undeutlichem nasalen Stimmklang bis HEUTE los.

Diese alten frühkindlichen Erfahrungen bzw. Prägungen sind jetzt ein- für allemal vorbei. Ab sofort wähle ich bewusst die aus diesem Loslassen "erwachsene" Deutlichkeit für mich und meine Stimme und Sprache. 

 

Herr B. zeigte sich überrascht, beeindruckt und berührt zugleich. Er bestätigte, dass "vom Gefühl her" die Loslasssätze den Kern seines Problems empathisch genau getroffen und "erlöst" hätten. Das Symptom, wegen dem er hergekommen war, relativierte sich von seiner Relevanz her sofort, weil ihm der darunterliegende, viel größere Zusammenhang deutlich geworden war und sich für ihn geklärt hatte. Sein Symptom hatte ihm also gewissermaßen zu einer weitaus umfassenderen Lösung "verholfen", als er sich zuvor überhaupt hätte vorstellen können.

 

Dieses Beispiel zeigt, wie ein stimmliches oder sprachliches Symptom immer auch ein "Ausdruck" oder Hinweis für etwas bislang Ungeklärtes ist, das im Sinne von Stimmigkeit  emotional ge- bzw. erlöst werden möchte :-)

 

Bei Herrn B.`s Symptomatik "Undeutlichkeit" bedeutete dies zunächst vor allem, all die als Frühchen in den ersten Lebenswochen erlebten Unklarheiten selbst endlich deutlich werden zu lassen. Durch diese neue Erfahrung konnte Herr B. das alte Resonanzfeld der Undeutlichkeit endlich verlassen und es durch die gewünschte Deutlichkeit ersetzen. Diese "Befreiung" der bis dahin verdeckten emotionalen Begleitumstände bereitete die Grundlage für weitere Fortschritte.    

 

Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich durch Loslassen nach einer Art "Schlüssel-Schloss-Prinzip" Lösungen für Stimme, Sprache und Kommunikation in relativer Leichtigkeit auftun.

 

Bettina Doll